Jazz in Österreich

 Geschichte des Jazz in Österreich

Einführung**
Der Jazz erreichte Österreich relativ früh, wurde anfangs aber oft als exotische Unterhaltungsmusik betrachtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich jedoch eine äußerst lebendige, eigenständige und international beachtete Szene, die von Traditionalisten bis zu radikalen Avantgardisten reicht. Wien wurde mit seinem einzigartigen "Sound" zu einem wichtigen Zentrum des europäischen Jazz.

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1. Die Pionierzeit & Die Zwischenkriegszeit (ca. 1920 – 1938)**
**Allgemeine Charakteristik:** Der Jazz kam nach dem Ersten Weltkrieg über Schallplatten und Tourneen amerikanischer Orchester nach Europa. In Österreich wurde er zunächst in Tanzlokalen und Revuen gespielt, oft in einer "verzuckerten", europäisch angepassten Form.

*   **Stil:** Ragtime, Dixieland, Swing.
*   **Geschichte & Vertreter:**
    *   **Erste Auftritte:** Amerikanische Tourneebands spielten in den großen Städten Wiens, Graz oder Salzburg.
    *   **"Jazz-Operette":** Komponisten wie **Ralph Benatzky** („Im weißen Rössl“) integrierten Jazz-Elemente in ihre Unterhaltungsmusik.
    *   **Das "Weiße Rössl" Orchester:** Unter der Leitung von **Erich Börschel** war es eines der ersten professionellen Unterhaltungsorchester, das Jazz-Rhythmen und -Sounds populär machte.
    *   **Die "Wolga-Schiffer" von Ernst Krenek:** Kein Jazz, aber ein Meilenstein. Diese Jazz-Operette (uraufgeführt 1926 in Leipzig, dann 1927 in Wien) machte den Jazz in der Kunstmusik gesellschaftsfähig und löste heftige Debatten aus.

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2. Stagnation und Verbot im Nationalsozialismus (1938 – 1945)**
**Allgemeine Charakteristik:** Nach dem "Anschluss" 1938 wurde Jazz als "entartete" und "Negermusik" diffamiert und verboten. Die Szene kam zum Erliegen, viele Musiker mussten emigrieren oder ihre Tätigkeit einstellen. Dennoch wurde in einigen Lokalen heimlich "Swing" gehört.

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3. Nachkriegszeit & Die Geburt der österreichischen Jazz-Szene (ca. 1945 – 1960)**
**Allgemeine Charakteristik:** Nach 1945 kehrte der Jazz mit den amerikanischen Besatzungssoldaten zurück. Die "Hot Clubs" wurden zur Keimzelle einer neuen, enthusiastischen Szene, die den Bebop entdeckte.

*   **Stil:** Dixieland-Revival, Bebop, Cool Jazz.
*   **Geschichte & Vertreter:**
    *   **Wiener Hot Club:** Gründungszelle des modernen Jazz in Österreich. Musiker wie der Gitarrist **Karl "Bumi" Fian** und der Saxophonist **Hans Salomon** waren prägende Figuren.
    *   **Joe Zawinul (1932-2007):** Der spätere Weltstar begann in den 1950er Jahren in Wien. Er spielte u.a. mit der **Fatty George Combo** und zeigte früh sein außergewöhnliches Talent, bevor er 1959 in die USA ging.
    *   **Fatty George (eig. Franz Georg Pressler):** Eine Schlüsselfigur. Seine Combos waren extrem populär und brachten den modernen Jazz (Bebop, Cool Jazz) einem breiten Publikum nahe.
    *   **Viktor Sylvester Orchester:** Ein weiteres populäres Orchester der Nachkriegszeit, das Swing und Tanzmusik spielte.

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4. Emanzipation und Aufbruch (1960er & 1970er Jahre)**
**Allgemeine Charakteristik:** Die Szene emanzipierte sich von den US-Vorbildern und entwickelte eine eigene Identität. Free Jazz und Improvisierte Musik hielten Einzug, und erste eigene Festivals entstanden.

*   **Stil:** Hard Bop, Modal Jazz, Free Jazz, Avantgarde.
*   **Geschichte & Vertreter:**
    *   **Austrian All Stars:** Ein Supergroup-Projekt, das die bestehenden Musiker:innen der Szene vereinte.
    *   **Friedrich Gulda (1930-2000):** Der weltberühmte klassische Pianist wandte sich ab den 1960ern intensiv dem Jazz zu. Seine "Euro-Jazz"-Haltung und sein kompromissloser künstlerischer Ansatz waren enorm einflussreich. Sein **Berliner Musikfestival** (1976) war eine legendäre Fusion von Klassik und Jazz.
    *   **Mathias Rüegg & das Vienna Art Orchestra (gegr. 1977):** Eine der international erfolgreichsten und kreativsten europäischen Big Bands. Rüegg kombinierte komplexe Arrangements mit Humor, theatralischen Elementen und einem breiten Stilspektrum von Free Jazz bis zu Bearbeitungen österreichischer Volksmusik.
    *   **Free-Jazz-Szene:** Pioniere wie der Saxophonist **Hans Koller** und der Pianist **Dieter Glawischnig** trieben die improvisierte Musik voran.
    *   **Festivals:** Die Gründung des **Jazzfest Wien** (1991, aber mit Vorläufern) und anderer Festivals schuf wichtige Plattformen.

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5. Die "Wiener Klangschule" und Internationale Strahlkraft (1980er & 1990er Jahre)**
**Allgemeine Charakteristik:** Es formierte sich eine Gruppe von Musiker:innen, die einen unverwechselbaren, oft dichten, klangfarbenorientierten und melancholischen "Wiener Sound" entwickelten. Diese Szene erlangte weltweit hohes Ansehen.

*   **Stil:** Avantgarde, Modern Creative, Zeitgenössisch-Europäischer Jazz.
*   **Geschichte & Vertreter:**
    *   **Wolfgang Muthspiel (*1965):** Gitarrist und Komponist von internationalem Rang. Bekannt für seinen lyrischen, klaren Sound auf akustischer und elektrischer Gitarre.
    *   **Wolfgang Puschnig (*1956):** Altsaxophonist, langjähriges Mitglied des Vienna Art Orchestra und Mitbegründer der Gruppe **NEW YORK WINDOWS**.
    *   **Christian Muthspiel (*1962):** Posaunist, Komponist und Bruder von Wolfgang. Seine Projekte verbinden Jazz mit Neuer Musik und Elektronik.
    *   **Franz Koglmann (*1947):** Trompeter und Flügelhornist. Eine intellektuelle Schlüsselfigur, dessen Musik sich elegant zwischen Jazz, Klassik (vor allem der Zweiten Wiener Schule) und Chanson bewegt.
    *   **Boris Pfeifer:** Einflussreicher Veranstalter (u.a. im **Jazzland**) und Förderer der Szene.

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6. Die zeitgenössische Szene (ab 2000)**
**Allgemeine Charakteristik:** Die österreichische Jazzszene ist heute so vielfältig wie nie zuvor. Sie ist international bestens vernetzt, stilistisch offen und wird von einer neuen Generation geprägt, die mühelos Jazz mit Electronica, Neuer Musik, Pop und Weltmusik verbindet.

*   **Stil:** Modern Creative, Fusion, Elektro-Jazz, Improvisierte Musik.
*   **Geschichte & Vertreter:**
    *   **Shiraz (*1977):** Das Trio um Pianist **Clemens Salesny** steht für einen modernen, kraftvollen und melodisch starken Akustik-Jazz und gilt als eine der führenden Formationen des Landes.
    *   **Clemens Wenger (*1982):** Pianist und Komponist, bekannt für seine filigranen, cineastischen Kompositionen, u.a. mit seinem Trio und dem Projekt **AVÁ.
    *   **Berndt Luef & Rudi Mahall:** Ein österreichisch-deutsches Duo, das humorvolle und virtuose Klarinettendialoge bestreitet.
    *   **Bassistenlegenden:**
        *   **Georg Breinschmid (*1973):** Der Ausnahmebassist verbindet auf geniale Weise jazzige Virtuosität mit wienerischer Schrammelmusik und Humor.
        *   **Peter Herbert:** Ein international gefragter Bassist mit einem unverwechselbaren Sound.
    *   **Elektronische und Grenzgänger-Formationen:**
        *   **Kuhn Fu:** Das Projekt des Gitarristen **Alexandra Kuhn** verbindet Jazz mit Balkan-Beats und Rock-Energy.
        *   **SOFA Surfers:** Obwohl eher im Trip-Hop/Electro angesiedelt, haben sie immer wieder mit Jazz-Elementen gearbeitet und zeigen die Vernetzung der Wiener Szene.
    *   **Institutionen:** Festivals wie **Jazzfest Wien**, **Saalfelden Jazz** (das wichtigste Festival für zeitgenössischen und avantgardistischen Jazz) und **Innsbruck Jazzfestival** sowie Clubs wie **Porgy & Bess** (Wien) und **Jazzclub Stockwerk** (Graz) sind lebenswichtige Adern der Szene.

Zusammenfassung**
Die Geschichte des Jazz in Österreich ist eine Geschichte der raschen Aneignung und der schnellen Emanzipation. Von der anfänglichen Unterhaltungsmusik entwickelte sich eine hochreflektierte, eigenständige Szene, die mit dem **Vienna Art Orchestra** und Protagonisten der **Wiener Klangschule** international Maßstäbe setzte. Die heutige Szene zehrt von diesem Erbe, bricht es aber gleichzeitig mit großer Selbstverständlichkeit auf und integriert es in einen globalen, hybriden Musikdiskurs.